Whisper in Translation (2020-2021)
Tintendruck auf Papier, 48-teilig, Ausstellungsansicht Galerie Stampa, Basel

Die Ärztin Ai Fen berichtet in ihrem Interview vom 27. Dezember 2019, dass in ihrer Notaufnahme in der Nähe des Fischmarktes von Wuhan ein Patient mit auffälligen Symptomen eingeliefert wurde. Es ist der zweite Fall einer Lungeninfektion in kurzer Zeit. Ai Fen schickt die Probe an ein Labor. Einen Tag später wird sie noch fünf weitere Fälle mit dem gleichen Krankheitsbild behandelt haben und, wie sie dem Magazin Renwu sagt, zum ersten Mal an die Entdeckung eines neuartigen Virus denken. Das Interview wird vom chinesischen Staat zensiert. Zensur-Algorithmen, die von Social- Media-Betreibern in China eingesetzt werden, sind darauf trainiert, sensible Bilder und Texte gleichermassen zu finden. Ein Screenshot eines gesperrten Artikels täuscht die Algorithmen normalerweise nicht. So sind diejenigen, die sich der Zensur entziehen wollen, gezwungen, ständig neue Vermittlungswege zu entwickeln: Die Bevölkerung begann, das Gespräch in verschiedene Sprachen zu übersetzen, darunter auch ins Elbische, die Sprache aus dem Buch Herr der Ringe, und ins Klingonische, die Sprache aus der Fernsehserie Star Trek. Eine Version ist in der Handschrift Mao Zedongs geschrieben, eine andere wurde als Hörbuch eingesprochen und eine weitere über Chinas Gesetz zur Internetzensur kopiert. Auch Umschriften in Blindenschrift, Gebärdensprache (in Form von Bildern) und in Hieroglyphen luden die User hoch.
 
Im Mai 2021 erhielt Daniela Keiser die erste Aufforderung zur Impfung gegen das Corona-Virus. Diese ermöglichte es ihr, mit der offensichtlichen Verbindung zur Entdeckung des Virus durch Ai Fen, die bereits im Jahr 2020 entstandene Arbeit „Whisper in Translation“ abzuschliessen. Auch wurde durch die Integration der Impfaufforderung in der Arbeit eine Verschränkung zwischen den beiden Standorten China und Europa möglich.
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Dear All (2018/2020)
Performative Lesung für 3 Stimmen, Installation, Kunstheft (24 S.), Stoffbahn 24 Yard, Grösse variabel, Wall & Stage, Zürich (Foto: leeli | photography)

In Daniela Keisers Übersetzungskonzepten wird ein dialogisches Verständnis zwischen unterschiedlichen Sprachen oder Idiomen hergestellt. Das Original tritt nicht zurück, sondern wird durch die gesamte Arbeit mitgetragen und bleibt bis zum Ende sichtbar. Die Interpretationen der Übersetzungen entsprechen einer Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen und sind wichtiger Bestandteil der Prozessarbeit. So beinhaltet Dear All (2018) eine zwar nur auf Englisch geführte E-Mail-Korrespondenz, die von einer in einer Londoner Reihenhaussiedlung gesichteten Maus, die einen Gang durch angrenzende Ateliers gräbt, angestossen wurde, ist als Projekt aber vielsprachig (Arabisch und Hindi) angelegt.

Korrespondenz: Laura Marin, London, Übersetzungen: Arabisch; Laila Samy, London und Hindi; Sarita Malik, Zürich
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bergen (2015)
Performative Lesung für 11 Stimmen von Daniela Keiser innerhalb der Installation „Wechselstuben“ von Michael Beutler, Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Text: Nadine Olonetzky
Lesende: Verena Busche, Tom Gräbe, Nike Hinsberg, Judith Kuckart, Maren Lübke-Tidow, Yves Mettler, Andine Müller, Natalie Prinz, Christine Rüb, Vito Sack, Miriam Wiesel

Einen öffentlichen Raum für Autobiografisches frei zu setzen und eine authentische Stimmung in der Verbindung zwischen Objekt, Bild, Text und Umgebung zu schaffen: Dieses Anliegen liegt dem Projekt „bergen“ zugrunde.

Innerhalb der offen angelegten Installation von Michael Beutler sind Sprechstimmen aus unterschiedlichen Generationen zu hören. Elf Menschen lesen aus dem aufgeschlagenen Kunstbuch "bergen" die eine und selbe Autobiografie der Autorin Nadine Olonetzky. Die Lesenden stehen innerhalb der Installation. Sie befinden sich nahe bei einer Wand, in einem Winkel, gegen eine Wand, ohne jedoch die Architektur zu berühren. Orte des Rückzugs, der Konzentration und nicht des großen Referierens sind für die Positionierung ausschlaggebend. Alle beginnen mit dem Text zur selben Zeit jedoch an unterschiedlichen Einsatzstellen. Dadurch wird es möglich die Chronologie der Geschichte also die Zeitordnung der autobiografischen Folge zu hinterfragen und in die Gegenwart zu hohlen. Die unterschiedlichen Lesetempi führen dazu, dass jede Stimme zu einem anderen Zeitpunkt endet und autonom wahrgenommen werden kann. Besucher und Besucherinnen bewegen sich frei innerhalb der akustischen Installation. 

Eine Co-Produktion zwischen dem Verein zur Förderung von Kunst und Kultur L40 und Janine Sack, mit Unterstützung des Verlags The Green Box

Die Rede (2021)
Audio-Installation mit Rednerpult, Künstlerheft "Clugén, Magùn, Promigiur" fotografisches Wandfries, Raumvariabel, Ausstellungsansicht 2017, Kunstmuseum Thun, Thun (Foto: David Aebi)

Kürzlich wurde die Valtschielbrücke in Donat (Schams) restauriert, ein Werk des Genfer Ingenieurs und Brückenbauers Robert Maillart aus dem Jahr 1925. Aus diesem Anlass bin ich auf ein Dokument gestossen, das die Alltagssituation der Bewohnerinnen und Bewohner in der Zeit vor dem Brückenbau schildert.,In Donat wird Rätoromanisch gesprochen. Dieser Text wurde in Form einer Rede verfasst, die nur einmal, 1989, nämlich am Einweihungsfest für die neue, parallel zur Maillart-Brücke verlaufende Funktionsbrücke, gehalten wurde. Der ursprüngliche Text ist in Bündner Mundart geschrieben. Diese Rede wurde nun in die fünf rätoromanischen Idiome Sutsilvan, Puter, Surmiran, Vallader und Sursilvan, und ins Englische übersetzt.,In diesem Text werden die langen Wege und Umwege beschrieben, die die Bevölkerung zurücklegen musste, bevor es die Brücken gab. Es wird auch geschildert, wie während eines Transports mit einem Pferdefuhrwerk, auf einem holprigen Weg bei Dunkelheit und schlechtem Wetter, ein Kaffeesack ein Loch bekam und die Kaffeebohnen herausfielen. Am nächsten Morgen mussten die Kinder der Familie die Kaffeebohnen dem Weg entlang suchen gehen und einsammeln. Eine Handlung, die an die Ernte in südlichen Breitengraden erinnert – Kaffeebohnen pflücken und sammeln. Oder an gewisse Märchen: die weissen Steinchen, die Hänsel und Gretel den Heimweg weisen, oder die Linsen, die Aschenputtel mithilfe der Täubchen rechtzeitig aussortieren kann. Daniela Keiser
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Ensemble (2013)
Akustische Bodeninstallation, 14 Zimmermannstaschentücher zu 7 Kissen verarbeitet, 1 Clubtischvitrine 170 x 70 x 16 cm, 14 Texte auf A4-Blättern, eine Sprechstimme

Bei den Arbeitsunterlagen, die Daniela Keiser oft über lange Zeit aufbewahrt, finden sich Blätter im DIN-A4-Format, auf denen in der fast schon historisch anmutenden Schrift herkömmlicher Schreibmaschinen einige Zeilen notiert sind. «ucgdhkjghakki wue gegt es Dur??» Der Text setzt sich fort in partiell lesbaren Fragmenten, um dann wieder ohne sichtbare Motivation oder inhaltliche Logik Buchstaben und Ziffern aneinanderzureihen. Diese Dokumente hat die Künstlerin aus Zürcher Warenhäusern entwendet, wo der Papierbogen zum Erproben einer Schreibmaschine eingespannt gewesen war. Mehrere Autorinnen und Autoren haben hier aufeinander reagiert. Daniela Keiser hat im Sinne dieses Verlaufs – mit eingeschlossen Rhythmus und Tonalität – ein Konzept entwickelt, um weitere Texte in Fortsetzung zu schreiben. Die Arbeit handelt von einer Sprache, die vor der Sprache beginnt: die Vorsprache.


Die Kairo Übersetzung / The Cairo Translation (2010)
Installation, Künstlerheft, Les Complices, Zürich

Ausgangslage für dieses Übersetzungsprojekt von Daniela Keiser sind zwölf Fotografien, die während eines Atelieraufenthalts in Kairo und Umgebung entstanden sind. Entsprechend der Anzahl der Bilder wurden zwölf Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt eingeladen, zu jeweils einer der Fotografien einen Text in arabischer Sprache zu verfassen. Im vorliegenden, ungebundenen Heft sind nun diese Bilder und die entstandenen handschriftlichen Texte zusammengestellt. Die Publikation erscheint in zwei Sprachausgaben je mit englischen respektive deutschen Übersetzungen der Texte und Faksimiles der arabischen Handschriften.

Sich rücklings auf die verschneite Erde fallen zu lassen, gehört in unseren Breitengraden zu einem beliebten Spiel für Kinder und Erwachsene. Fünf Busstunden von Kairo entfernt, am Rande der Schwarzen Wüste, dort, wo die Dünenhügel zu wandern beginnen, legen sich Kinder und Erwachsene auf die Erde beziehungsweise auf den feinen Sand, um ihre Spuren zu legen. Im Unterschied zu hier werden dort die Beine nicht bewegt, der entstandene Abdruck wird aber ebenfalls als «Engel» gelesen.

Textbeiträge von Karem Albehari, Salah al Dao, Mahmoud Darwesh, Karim Farag, Mahmoud Hanafy, Mohammad al Kholy, Zinab Lashen, Mohammed Megahed, Mostafa Abd al Shafy, Olla Abd al Shafy, Mona Zakaria Sobh, Rame Yahya (arab./dt./engl.)

Übersetzungen aus dem Arabischen ins Deutsche und Englische: Franziska Zezulka und Anne Koch
Herausgegeben von Georg Rutishauser, edition fink, Zürich

Ar & Or (2010)
Installation, 63 Inkjet- und Laserprints, 9 handgemachte Klapptische je 98 x 64 x 54 cm (LxHxB), 9 hauseigene Stühle, 550 x 350 cm, Galerie Stampa, Basel

Der Al-Azhar-Park ist jung. Er wurde auf einer ehemaligen Schutthalde im Herzen von Kairo als ein weitläufiger islamischer Garten angelegt und von der Aga
-Khan-Stiftung finanziert. Dieses eine Bild, das nun die Basis für dieses Übersetzungsprojekt bildet, habe ich in diesem Park fotografiert. Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Berufen, die mit der arabischen Welt verbunden sind,  wurden eingeladen, eine fiktive Biografie für die darauf abgebildete Person zu schreiben. Für eine Fotografie sind nun mehrere Fassungen von Texten entstanden.

Mit Textbeiträgen von Bärbel Dalichow, Museumsdirektorin; Beat Häner, Filmemacher; Clara Saner, Künstlerin; Dominique Salathé, Architekt; Guido Hager, Landschaftsarchitekt; Hossam Adly, Ethnologe; Judith Kuckart, Schriftstellerin; Susanne Schanda, Journalistin; Franziska Zezulka, Übersetzerin;

Übersetzungen vom Deutschen ins Englische: Catherine Schelbert. Übersetzungen vom Deutschen 
ins Arabische: Issa Gerber

Le Strade di Palumbo (2001/2008)
In Zusammenarbeit mit dem Musiker Hans Feigenwinter
Akustische Installation, Ton, 25 Textblätter, Tische, Bänke, Raum aus Kartonplatten, Grösse variabel, Villa Merkel, Esslingen (D)

Wer schreibt, hat zumindest Respekt vor den Übersetzerinnen und Übersetzern. Sie decken schamlos undichte Stellen auf, strafen Vagheiten mit präzisen Rückfragen oder der Freiheit zu eigenem Extemporieren. Man denke sich nun einen Text, der so lange von einer Sprache in die nächste übertragen wird, bis keine Fragen mehr offen sind, oder bis sich jede Bedeutung verflüchtigt hat: den entleerten Text. Daniela Keiser setzt ihre Polizeiakte einem derartigen Spiel der Sprachen aus: «… abbiamo proceduto al sequestro di: UNA BANCONOTA DA 50.000 lire italiane (Cinquanta milalire), avente raffigurato numero di serie MB 363993R, perchè ritenuta presumibilmente falsa.» «… eine 50 000 Lire Note (fünfzig tausend) mit SerienNummer MB 363993R, die man angenommen hat, es sei eine Fälschung.» (Heisst das nun: ‹von der man angenommen hat, es sei eine Fälschung›? Oder: ‹die man angenommen hat, wohl wissend, dass es eine Fälschung ist›?) Und schliesslich ein drittes Stadium der sprachlichen Metamorphose: «(…) Beschlagnahmt wurden eventuelle Fälschungen; ein 50 000 (fünzigtausend) Italienische Lire Banknoten, mit der SerienNr. 36993.» Die Textquelle wird zur Quelle von Mehrdeutigkeiten, Missverständnissen und effizienten Verkürzungen. Klar bleibt nur eines: «ma questa dichiarava di NON volersi far assistere dal difensore / und dennoch bestand sie nicht darauf, einen Anwalt zu nehmen». Hans Rudolf Reust